
Sicherheit neu denken
Ein Vorschlag „Fratelli Tutti“ neu zu lesen
Thomas Nauerth
Der Mensch ist ein vergessliches Wesen. Es braucht an einem Ereignis, einem Text etc. schon etwas Besonderes, um in Erinnerung zu bleiben. Manchmal ist es ein überraschender Gedanke, der verblüfft und sich festsetzt. Der Initiative „Sicherheit neu denken“ scheint dies gelungen zu sein. Weniger wohl durch die Brillanz von Titel und Text ihres „Szenarios“, sondern durch ihre verblüffend einfache Grundidee: Warum sollte man das Militär nicht in einem gestuften Prozess gänzlich abschaffen können? Plötzlich ist da eine Perspektive, die neu ermutigt und herausfordert.
Das Thema Sicherheit hat bekanntlich seit Beginn der weltweiten Pandemie neue Relevanz und eine ganz andere inhaltliche Füllung bekommen. Plötzlich wird erkennbar, welch fossile Lösung Militär eigentlich ist – und dieses anachronistische militärische Monster frisst die Ressourcen, die wir weltweit jetzt dringend brauchen. Höchste Zeit, Sicherheit wirklich radikal neu zu denken!
Das scheint sich auch Papst Franziskus gedacht zu haben. Im Oktober 2020 erschien ein Dokument von 106 Seiten unter dem Titel „Fratelli Tutti“, vielleicht erinnert sich noch eine/r? Ja, der Mensch ist ein vergessliches Wesen … Und der Papst hat zwei Fehler gemacht, einen zu langen Text mit einem zu sperrigen Titel versehen (Brüder!). Kein Wunder, dass diese Enzyklika schon fast historisch ist, hierzulande kaum in die öffentliche Debatte gelangte. Wie wäre es mit einem Reframing, mit einer Neulektüre unter anderem Titel? Ich hätte einen Vorschlag: „Sicherheit neu denken – Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft“.
Ein anderer Anfang
Vielleicht müsste man den Text noch ein wenig umstellen, zum Beispiel wäre dies hier eine schöne Eröffnung:
„Im Namen der Völker, die der Sicherheit, des Friedens und des gemeinsamen Zusammenlebens entbehren und Opfer von Zerstörung, Niedergang und Krieg wurden. Im Namen der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit, den Grundlagen des Wohlstands und den Eckpfeilern des Glaubens. Im Namen aller Menschen guten Willens an allen Orten der Welt nehmen wir die Kultur des Dialogs als Weg, die allgemeine Zusammenarbeit als Verhaltensregel und das gegenseitige Verständnis als Methode und Maßstab an.“ (285)
Auf eine solche Eröffnung sollten dann aber nicht seitenlang „die Schatten einer abgeschotteten Welt“ (Nr. 9–55) fallen. Das Dokument „Sicherheit neu denken“ stellt es viel schlauer an: Es beginnt mit dem sehr umfangreichen Positivszenario: „Nachhaltige Zivile Sicherheit“ (S. 26–141). So lassen sich Leser*innen locken!
Der Papst kann das grundsätzlich auch. Zumindest die Titel seiner Kapitel klingen sehr einladend, nur gibt es leider kein Inhaltsverzeichnis und wer von vorne liest, verliert sich im Negativ- und Trendszenario des Papstes, in den „Schatten einer abgeschotteten Welt“.
Ein päpstliches Positivszenario
Das Positivszenario des Papstes beginnt mit einer biblischen Relecture: „Ein Fremder auf dem Weg“ (Nr. 56–86). Der Papst fordert dann auf, eine „offene Welt“ zu denken und zu schaffen (Nr. 87–127), wozu es ein „offenes Herz für die ganze Welt“ braucht (Nr. 128–153). Dann kann die „beste Politik“ (Nr. 154–197) gewählt werden, die aus „Dialog und sozialer Freundschaft“ (Nr. 198–224) heraus, „Wege zu einer neuen Begegnung“ (Nr. 225–270) entstehen lässt, wobei den „Religionen“ eine wichtige Aufgabe „im Dienst an der Geschwisterlichkeit in der Welt“ (Nr. 271–285) zukommt.
Nicht nur den Religionen kommt eine wichtige Aufgabe zu. Erst recht nicht nur den Regierungen. Nein, wir „dürfen nicht alles von denen erwarten, die uns regieren; das wäre infantil. Wir haben Möglichkeiten der Mitverantwortung, die es uns erlauben, neue Prozesse und Veränderungen einzuleiten und zu bewirken. Wir müssen aktiv Anteil haben beim Wiederaufbau und bei der Unterstützung der verwundeten Gesellschaft.“ (Nr. 77). Auch von denen, die uns in der Kirche regieren, dürfen wir natürlich nicht alles erwarten … dieser Papst setzt auf die Basis, auf die NGOs, auch auf pax christi!
Franziskus setzt auf pax christi
Für pax christi besonders interessant: Dieser Papst setzt nicht auf Gewalt und Krieg. Ganz hinten in seinem langen Text findet sich das Kapitel „Krieg und Todesstrafe“ (ab Nr. 255). Vielleicht hätte er dies auch besser am Anfang gesagt. Sicherheit neu zu denken, heißt eine Welt ohne Krieg und Militär zu denken: „… können wir den Krieg nicht mehr als Lösung betrachten, denn die Risiken werden wahrscheinlich immer den hypothetischen Nutzen (…) überwiegen. (…) Nie wieder Krieg!“ (Nr. 258).
„Jeder Krieg hinterlässt die Welt schlechter, als er sie vorgefunden hat. Krieg ist ein Versagen der Politik und derMenschheit, eine beschämende Kapitulation, eine Niederlage gegenüber den Mächten des Bösen“ (Nr. 261). Deswegen die großen Begriffe von Solidarität, von Geschwisterlichkeit, von Dialog und Vertrauen. Das alles brauchen wir, das alles müssen wir dringlich entwickeln, damit wir Zukunft haben können. Aber, und da ist der Papst sehr klar, wir können nicht warten, bis wir alles entwickelt haben, kein Szenario bis zum Jahre 2040 bis wir endlich auf das Militär verzichten können: „Halten wir uns nicht mit theoretischen Diskussionen auf, sondern treten wir in Kontakt mit den Wunden, berühren wir das Fleisch der Verletzten“ (Nr. 261). Jetzt schon – schon jetzt! – müssen wir auf Militär und Krieg als Mittel verzichten, sonst wird das nichts mit der so notwendigen Entwicklung einer geschwisterlichen Welt: „Und mit dem Geld, das für Waffen und andere Militärausgaben verwendet wird, richten wir einen Weltfonds ein, um dem Hunger ein für alle Mal ein Ende zu setzen und die Entwicklung der ärmsten Länder zu fördern, damit ihre Bewohner nicht zu gewaltsamen oder trügerischen Lösungen greifen oder ihre Länder verlassen müssen, um ein menschenwürdigeres Leben zu suchen.“ (Nr. 262). Amen.
Thomas Nauerth ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von pax christi und Mitbegründer des Ökumenischen Instituts für Friedenstheologie.