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Sara Ianovitz

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Syrische Geflüchtete im Libanon

Friedenskorps zur Unterstützung syrischer Flüchtlinge im Libanon

Power to the people! oder von der Entscheidung, im Konflikt zu leben

Bei organisierter militärischer Gewalt im Kontext von Krieg und Bürgerkrieg ist die Umsetzung gewaltfreier Praktiken und Ansätze, die sich auf die „Macht des Volkes“ („people power“)1 stützen, sehr schwierig und erfordert Entschiedenheit und eine sorgfältige Strategie. Dabei hat sich die Unterstützung durch Organisationen wie z.B. die Gemeinschaft St. Egidio e.V., Assoziation of Social Promotion Research Institute for Peace, Operazione Colomba (OP), die Nonviolent Peaceforce oder Christian Peacemaker Teams (CPT) als hilfreich erwiesen. Diese Organisationen bilden Friedensfachkräfte aus und schicken sie auf Anfrage von lokalen Organisationen in die jeweilige Krisenregion mit heftigen bewaffneten Konflikten, um gemeinsam mit diesen die für den jeweiligen Konfliktfall passende Strategie zu entwickeln. Sie verstehen ihre Arbeit als effektive und glaubwürdige Alternative zu militärischen Interventionen in internationale, zwischenstaatliche und innerstaatliche Konflikte.

Im Flüchtlingslager im nordlibanesischen Tel Abas, nur fünf Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, nahmen 2013 Freiwillige der Operazione Colomba (OC), das „gewaltfreie Friedenskorps der Papst Johannes-XXIII-Gemeinschaft“, auf Bitte der dort lebenden syrischen Flüchtlinge ihre Arbeit auf.2 In dem Lager, in dem Menschen lebten, die die Vertreibung aus ihrer Heimat, bewaffnete Angriffe, Folter und den Tod von Angehörigen erlitten hatten, war die Anfälligkeit für organisierte Kriminalität gewachsen. Es kam zu Bedrohungen, körperlichen Übergriffen, Zelte wurden verbrannt und Menschen vertrieben. In dieser Situation baten Flüchtlinge das OC um Unterstützung.

Die OC-Freiwilligen bilden vor allem deshalb einen wirksamen Schutz, weil sie im Lager zusammen mit den Flüchtlingen leben und deren harten Alltag teilen. Zunächst kam jedoch nur ein kleines OC-Team in das Lager. Sie bauten erste Kontakte zu den Geflüchteten auf und setzten sich im sozial-politischen Umfeld des Flüchtlingslagers für deren Belange ein, vor allem für die medizinische Versorgung der Frauen, Kinder und älteren Menschen. Auf diese Weise gewannen sie das Vertrauen der Menschen im Lager und auch die Anerkennung und Respekt der lokalen libanesischen Bevölkerung, die den Geflüchteten zunächst ängstlich und zum Teil auch feindlich gegenüberstand. „Unser Ausgangs- und Kernpunkt ist Gewaltfreiheit, wie sie in unserer Teilnahme am Lagerleben verwurzelt ist," erläutert Sara Ianowitz, eine der Freiwilligen.

Nach dieser ersten Phase, in der sie auch Einblick in die verschiedenen Konfliktlinien gewinnen konnten, ermittelten Sara und andere Freiwillige des OC-Teams eine Anzahl Gewalt blockierende Techniken, die sie dann mit den syrischen Kriegsflüchtlingen erprobten.3 Grundidee war in diesem Fall, eine von allen ausgehende, demokratische Diplomatie aufzubauen. So wird in Situationen wie in dieser, in denen Menschen aus verschiedenen Kulturen schnell lernen müssen, gemeinsam Entscheidungen zu treffen, genau das trainiert: Bewohner*innen werden in Stand gesetzt, sich gemeinsam zu organisieren. Nachdem ein OC-Team mit den Leuten erste Workshops organsiert und Vertrauen aufgebaut hatte, zog das OC als große Gruppe in das Lager ein, um fortan vor Ort zu wohnen. Ein wichtiger Teil der Arbeit bestand auch weiter darin, v.a. für die oben genannten vulnerablen Gruppen rechtliche und medizinische Hilfe zu organisieren und, wo nötig, auf die lokalen Institutionen Druck auszuüben, damit den Geflüchteten die notwendigen Hilfen wirklich zukamen.

Nachdem sich die Beziehungen weiter gefestigt hatten, konnte der nächste Schritt erfolgen. Das OC organisierte sichere Fluchtwege, die aus miteinander verbundenen Hilfsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Organisationen bestanden, auf denen die Flüchtlinge dem perspektivlosen Lagerleben sicher entkommen konnten.

Einige der Syrer*innen wollten sich jedoch nicht mit der Flucht als einzige Möglichkeit abfinden, sondern in ihre Heimat zurückkehren. Sie taten sich zusammen und verfassten den erstaunlichen Appell „We, the Syrians“, in dem sie die Schaffung von Sicherheitszonen in Syrien forderten, in die keine Armee oder bewaffnete Gruppe eindringen dürfe. Sie forderten „einen Frieden, bei dem die Verantwortlichkeiten klar sind und durch den ein neues Syrien für diejenigen geschaffen wird, die keine Gewalt wollen.“ In diesem Appell drückt sich der Protest gegen die allgemein übliche Praxis aus, bei Friedensgesprächen nur die Vertreter*innen der jeweiligen bewaffneten Kombattanten zu Wort kommen zu lassen, nicht aber die Zivilbevölkerung. Warum, so fragten die Syrer*innen in den Lagern, „haben wir nur die Möglichkeit zu fliehen und man erlaubt uns nicht, unser Leben, unsere Ideen, unsere Kraft und unsere Hoffnungen für die Schaffung eines Friedensvorschlags einzusetzen?“ Sara Iannovitz schöpft die Kraft für ihr Engagement aus ihrem Glauben. Die Verkündigung, dass Gott „Fleisch geworden“ ist und „unter uns gewohnt“ hat (Joh 1,14), hat sie bewogen, die Entscheidung zu fällen, „auch im Konflikt zu leben. Wir entscheiden uns darin zu sein, nah, nicht weit weg.“ Indem sie mit Menschen, die Vertreibung und Verluste erlitten haben, persönlich in Beziehung tritt und sich ihrem Leid öffnet, erlebt sie selbst eine persönliche Verwandlung und das beglückende Gefühl, gemeinsam mit anderen Veränderung bewirken und so eine neue soziale Realität schaffen zu können. Selbst zu handeln und zugleich Platz für andere zu lassen, damit auch sie aktiv werden können – das sei beides wichtig, hebt Sara hervor. Alles erwachse daraus, im mit den Flüchtlingen im Lager zu leben und so am Leben der Opfer von Gewalt teilzunehmen. Aus dieser Gemeinschaftlichkeit, einer besonders wirksamen Form der Solidarität, erwachsen die neuen heilsamen Aktivitäten, die die Ausbreitung von Gewalt stoppen und sie mehr und mehr eindämmen.

1 Gemeint ist die „Macht einer mobilisierten Bevölkerung und deren Institutionen, gewaltfreie Formen des Kampfes zu nutzen, um sozialen Wandel herbeizuführen". Der Begriff wurde 1986 während des unbewaffneten Aufstandes auf den Philippinen gegen Präsident Marcos geprägt. Handbuch für gewaltfreie Kampagnen, hg. v. War Resisters‘ International, Berlin 2017, S. 239.

2 Im Folgenden referiere ich aus der Veröffentlichung "Advancing Nonviolence and Just Peace in the Church and the World", Pax Christi International, Brüssel 2020.

3 Zum Verständnis dieser Techniken siehe: Techniken für Zentrierung, Schutz und Blockade, in: Handbuch für gewaltfreie Kampagnen, hg. v. War Resisters‘ International, Berlin 2017, S.232-239

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