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pax_zeit | 4_2021

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Mehr als Gewalt und Hilflosigkeit – Geschichten des gewaltfreien Widerstandes

Mehr als Gewalt und Hilflosigkeit

Geschichten des gewaltfreien Widerstandes

Inga Ferber

220 bewaffnete Konflikte zählte das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung weltweit im Jahr 2020. Dabei handelte es sich unter anderem um Kriege zwischen Staaten, Bürgerkriege, Auseinandersetzungen zwischen Drogenkartellen, ethnisch-motivierte Konflikte und Ressourcenkonflikte. Doch obwohl die Konfliktkontexte so unterschiedlich sind, erreichen uns fast immer ähnliche Bilder, besonders wenn die Konflikte im Globalen Süden stattfinden: Auf der einen Seite stehen Männer, die brutale Gewalt ohne Rücksicht auf Verluste ausüben. Auf der anderen Seite stehen die Leidtragenden, meist Kinder und Frauen, die der Gewalt hilflos ausgeliefert sind.

Diese Bilder aus dem Globalen Süden beruhen auf einer langen Tradition. In der Kolonialzeit wurde die Darstellung der besetzten Bevölkerung als „wild“ und „unzivilisiert“ als Rechtfertigung für die brutalen Gewaltexzesse an der Bevölkerung missbraucht. Gleichzeitig wurde versucht, die unrechtmäßige Besetzung vonseiten der Kolonialmächte damit zu legitimieren, der „hilflosen“ und „trägen“ Bevölkerung zu einem besseren Lebensstandard zu verhelfen. Aber auch wenn die Absicht hinter den historischen Bildern inzwischen entschieden verurteilt wird, ist die Darstellung von Menschen in Konfliktkontexten als entweder bedrohlich oder hilflos weiterhin weitverbreitet.

Warum die vorherrschende Darstellung zu einseitig ist

Das Problem an der weitverbreiteten Darstellung ist nicht, dass sie nicht stimmt. Menschen begehen in Konflikten grausame Gewalttaten, worunter die Bevölkerung, und ganz besonders Frauen und Kinder, unvorstellbar leiden. Wie die Autorin Chimamanda Adichie anmerkt, bestehe die „Gefahr einer einzigen Geschichte“ nicht darin, dass sie „unwahr“, sondern dass sie „unvollständig“ sei. Denn diese Darstellung vergisst, dass es auch eine dritte Handlungsweise in Konflikten gibt: die der aktiven Gewaltfreiheit.

Neben denen, die Gewalt ausüben, gibt es auch immer diejenigen, die diese Taten dokumentieren und versuchen, die Täter*innen auf legalem Wege zur Rechenschaft zu ziehen. Hinter vielen hilflosen Kindern stehen mutige Mütter und Väter, die gewaltfrei für eine friedvolle Zukunft kämpfen. Und Frauen leiden zwar besonders unter den Folgen von Konflikten, sind allerdings auch häufig diejenigen, die durch ihr Engagement Friedensprozesse anstoßen und entscheidend voranbringen.

Die Folgen der einen Geschichte

Angesichts der wichtigen Rolle, die lokale Initiativen in Friedensprozessen spielen, erreichen die Geschichten von kreativem, indigenem, wirkungsvollem und gewaltfreiem Widerstand viel zu selten eine große internationale Öffentlichkeit. Die Erklärung vieler großer Hilfsorganisationen für ihre einseitige Darstellung ist simpel: Leid erzeugt Mitleid, erzeugt Spenden. Doch dieses Argument muss präzisiert werden: Mitleid mag zu Spenden an Hilfsorganisationen führen – an westliche Hilfsorganisationen, die die hilfsbedürftigen Menschen im Globalen Süden „retten“ sollen. Die Darstellung einer hilflosen Zivilbevölkerung spielt auch Regierungen und Armeen in die Hände, die sich auf das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung berufen, ohne ihre Strategie mit lokalen Friedensinitiativen abstimmen oder sie fragen zu müssen, ob eine militärische Intervention wirklich die einzige und beste Option ist.

Während einige Akteur*innen von der einseitigen Darstellung profitieren, leiden Aktivist*innen in Konfliktkontexten unter ihrer „Unsichtbarkeit“. Vertreter*innen der lokalen Zivilgesellschaft spielen in den meisten internationalen Foren und Friedensverhandlungen, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Nur ein Bruchteil der weltweiten staatlichen und privaten Spenden fließt direkt an lokale Organisationen im Globalen Süden, wie etwa das Overseas Development Institute in ihrer Evaluation der globalen Initiative „The Grand Bargain“ aufzeigt. Dadurch fehlen lokalen Initiativen oft politischer Einfluss und finanzielle Mittel, um über die lokale Ebene hinaus wirken zu können.

Alternativen für neue Perspektiven

Dass es auch anders geht, zeigen exemplarisch Initiativen zu Kolumbien wie die pax christi-Kommission „Solidarität Eine Welt“, „Aktion Aufschrei-Stoppt den Waffenhandel!“ oder die Kampagne „Water for Life“ von Pax Christi International. Durch Kampagnen in den sozialen Medien, Begegnungstreffen und Vortragsreisen unterstützten sie in den letzten Jahren zahlreiche Aktivist*innen aus Kolumbien dabei, auch hier in Deutschland von ihren Erfahrungen zu berichten. Die Einschätzungen der Aktivist*innen helfen uns, die „eine einzige Geschichte“ infrage zu stellen, dass wir im Globalen Norden durch Entwicklungshilfe, Diplomatie und andere Mittel zu Frieden und Wohlstand im Globalen Süden beitragen. Stattdessen schärfen die Berichte unsere Sicht auf globale Zusammenhänge und zeigen auf, wie wir in Deutschland zum Beispiel durch Waffenexporte und Rohstoffimporte zu Gewalt und Leid vor Ort beitragen.

Wo auch immer Konflikte und Gewalt entflammen, geht es weiterhin darum, diejenigen zu unterstützen, die sich dagegen aktiv gewaltfrei zur Wehr setzen. Ihre Geschichten sind weniger gut geeignet, um Mitleid zu erzeugen. Indem wir den Aktivist*innen zuhören, ihren Stimmen Raum verschaffen und uns dafür einsetzen, dass ihre Forderungen von Entscheidungsträger*innen gehört werden, können aber Empathie und Respekt entstehen. Auch können wir aus den Geschichten neue Kraft und Ideen schöpfen, unsere eigene Regierung zur Rechenschaft zu ziehen – für ihren Anteil an Gewalt im eigenen Land und anderswo.

Inga Ferber ist seit Juli 2021 Projektreferentin für aktive Gewaltfreiheit im pax christi-Sekretariat Berlin.

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